Zu Besuch bei Jutta Langer im Dr.-Harnisch-Haus.
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Es gibt Menschen, die erstaunen nicht nur auf den ersten Blick. Mit Frau Langer habe ich mich telefonisch im Dr.-Harnisch- Haus, dem Altersheim in der Liebigstraße, verabredet, wo sie seit sieben Jahren wohnt. Mir kommt sie mit Rollator entgegen, schmal, sehr gerade, mit einem schicken langen, hellgrauen Pullover und schwarzen Leggins bekleidet und mit Ketten und Ringen geschmückt. Ihr weißes Haar hat sie locker zusammengebunden und ihr Gesicht stahlt wie das einer jungen Frau. Ein Oma-Typ ist Frau Langer nicht, obwohl sie in diesem Jahr achtzig Jahre alt wird.
Leben mit der offenen Grenze
Wir setzen uns in den öffentlichen Café-Raum. Ich hatte Frau Langer darum gebeten, mir etwas von Ihrer Zeit zu erzählen, die sie als Erzieherin in Heimen und Krippen in Friedrichshain arbeitete. Geboren wurde sie in der Weichselstraße, aufgewachsen ist sie in Köpenick. Sie waren vier Kinder zu Hause. „Ich selbst wollte nie eine Hausfrau sein, wollte selbständig Geld verdienen und es auch selbst ausgeben“, unterstreicht sie. Als junge Frau arbeitete sie in einem Kinderheim auf Stralau, das längst nicht mehr besteht. Es lag fast an der Spitze der Insel. Sie legt Wert darauf, es nicht mit dem Durchgangsheim im Gebäude der heutigen Thalia-Schule zu verwechseln. Zunächst arbeitete sie als Helferin, dann lernte sie den Beruf der Krippenpflegerin. Mir fällt es nicht einfach, ihr zuzuhören, so sehr faszinieren mich ihre Lebendigkeit, ihr Minenspiel und ihre Beweglichkeit. Es ist, als stecke ein ganz junger Mensch im alten Körper. Offenbar bemerkt sie meine Irritation, denn sie ändert das Thema und zeigt mir das Titelfoto einer Broschüre mit der Oberbaumbrücke drauf. „Das erinnert mich an meine Jugend. Da bin ich immer über die offene Grenze nach Kreuzberg gegangen und habe nach Petticoats geschaut. Es war die Rock’n Roll-Zeit. Ich habe immer gern getanzt. Auch eine schicke Schnürbluse und Rock’n Roll-Schuhe hatte ich.“ Dabei war das Leben mit der offene Grenze gar nicht so einfach, wie heute oft geglaubt wird. Die Menschen verdienten weniger Geld als heute und lebten in sehr viel einfacheren Verhältnissen. „Meiner Mama habe ich einmal eine Westzeitung am Körper tragend über die Grenze geschmuggelt.“ Sie wollte sich als Putzfrau im Westen etwas dazu verdienen. „Dafür haben sie mir ein anderes Mal an der Grenze einen schicken Schal abgenommmen, den ich mir gekauft hatte.“ Auf Stralau leistete Jutta Langer auch Aufbaustunden in einer Gärtnerei. Bis Ende der 1960er Jahre war dies der übliche Weg, um in einer Arbeiterwohnungsgenossenschaft Anteile zu erwerben. „Der Gärtner mochte mich, wohl auch weil ich besonders fleißig war, und schrieb mir immer mal ein paar Stunden mehr auf. Schließlich habe ich eine schöne Wohnung in Hohenschönhausen bekommen.“
Alleinerziehend
Ihr erstes Quartier in Friedrichshain hatte sie in der Seumestraße, wo sie die Eltern einer Freundin aufnahmen, die in den Westen gegangen war. „Sie waren sehr freundlich zu mir und forderten mich auf, in ihr Zimmer zu ziehen.“ Doch dies hielt nicht lange an. „Eines Tages komme ich nach Hause, alles merkwürdig still. Keiner da, die Schränke leer. Da wusste ich, dass auch sie in den Westen gegangen waren. Im Küche lag ein großer Zettel: „Liebe Jutta, ich hoffe, Du verstehst unseren Schritt …’ Die Wohnung durfte ich natürlich nicht behalten. Gerade einmal ein Klappbett konnte ich aus dem Mobiliar der Wohnung behalten. Das musste ich aber auch bezahlen. Dafür bekam ich dann eine Wohnung in der Krossener Straße zugewiesen.“ Vier Treppen, Hinterhaus. „Es war nicht einfach. Ich musste das Kind hochschleppen, ins Bett bringen, dann den Kinderwagen hoch.“ Hat sie denn ihr Mann nicht unterstützt? „Optisch war ich eine ganz Flotte, schlank, mit schöner Taille und mit schwarzem Pferdeschwanz.“ Dann fügt sie hinzu: „Eine Nonne bin ich nicht“, und lacht dabei. Aber es ging schief mit diesem Mann. Besonders schwierig wurde es mit der Arbeit. Drei Monate nach der Geburt war der Mutterschutz beendet. Ihre Tochter gab sie in der Krippe, in der sie arbeitete, unten ab und oben wartete eine Gruppe mit 25 kleinen Kindern im Alter von einem bis drei Jahren auf sie. Diese hatte sie zu betreuen: Pflege, Windeln, Füttern, Geh-, Sprech- und Singerziehung. Das eine Wohnzimmer, das sie mit ihrer Tochter bewohnte, hatte Frau Langer längst geteilt: ein Fenster für sie, das andere für das Kind. Besser wurde es, als sie von einer Kollegin in eine Einrichtung in der Kreuziger Straße geholt wurde. „Der VEB Messelektronk Ostkreuz hatte dort eine eigene Betriebskrippe mit einem schönem Garten, der gleich an die Grünfläche des Friedhofs angrenzte. Dort arbeitete ich zwanzig Jahre lang. Ich glaube, das war meine schönste Zeit.“ Später arbeitete sie noch in anderen Einrichtungen. In Rente ist sie mit 58 Jahren gegangen, mit einer sehr großzügig bemessenen Abfindung. „Aber mir fehlten die Kinder und mir fehlten auch die jungen Eltern. Ein bisschen fiel ich zuerst in ein tiefes Loch.“
Jung geblieben
Offenbar hat sich Frau Langer ihre lebendige Sprache von den jungen Leuten abgehört. Abgesehen vom Berlinischen, in dem wir die Unterhaltung führen, benutzt sie auch so relativ moderne Wörter wie „cool“ und „locker“ ganz selbstverständlich, so dass man meint, eine viel jüngere Frau sitze einem gegenüber. Und sie hat trotz aller Entbehrungen auch Spaß gehabt: „Ich kenne alles in Friedrchshain, auch die Tanzlokale, die es längst nicht mehr gibt!“ Sie beginnt aufzuzählen: „Das Mainzer Eck an der Mainzer Straße, Ecke Frankfurter Allee, das Café Reni am Ringbahnhof, Haus Berlin am Strausberger Platz, wo man ganz oben eine Tanzbar eingerichtet hatte, der Tokajer-Keller in Haus Budapest, wo immer ungarische Kapellen aufspielten und das Café Moskau. Da war ich mal mit meiner Tochter und die hat gefragt: ‘Gibt’s hier auch Bockwurst?’ Da habe ich gesagt: ‘Nein, hier ist man fein!’“ Ihre Tochter hat übrigens studiert und ist berufstätig. Berlin hat Frau Langer mit dem Fahrrad erkundet. „Ich bin von Hohenschönhausen überall hin gefahren. Ich war immer unterwegs. Bin geschwommen, Schlittschuh gelaufen. Nur Skaten habe ich nicht gelernt.“ Wenn es ginge, würde sie es auch lernen wollen? „Na klar! Jetzt rächt sich aber, dass ich auch noch als ältere Kollegin immer die Kinder hoch und runter genommen habe. Gerade die dicken Pummelchen, die habe ich besonders geliebt!“ Unterwegs ist sie trotzdem. „Zum Beispiel gehe ich zum Boxhagener Platz, da treffe ich Bekannte und schaue, wo ich mal gewohnt habe. Aber der Gesundheitsminsiter Spahn müsste sich das mal ansehen, wie oft man mit so einem Rollator nicht weiter kommt. Dabei benutzen immer mehr Leute so eine Hilfe. Ich lese auch viel. Die Zeitung zum Beispiel oder dieses Journal hier.“ Sie zeigt mir eine bekannte Umwelt- Broschüre. „Schon die Bilder sind eine Wucht! Und dann schaue ich bis in die Puppen Fernsehen, weil es immer so interessante Sendungen gibt. Und ich höre Musik. Klassik, Pop, auch Techno. Das gefällt mir.“ Sie zeigt einen Aufkleber auf ihrem Rollator: ‘Zug der Liebe’. „Da bin ich auch gewesen. Wir haben übrigens jetzt das Beethoven-Jahr. Da gibt’s bestimmt eine Menge schöner Konzerte.“ In Jutta Langer ist mehr Leben als als in manchen Jugendlichen.