
Wer im Glashaus sitzt
Seit am 29. März 1926 ein gewisser Hungerkünstler „Jolly“ für 44 Tage öffentlichen Hungerns ganze 130.000 Mark eingenommen haben soll, probierten es viele andere auch mit dieser „brotlosen Kunst“. Am westlichen Ende der Elisabethstraße bekam Adolf Glücksmann alias „Ventego“ am 24. April 1926 Probleme. Er logierte seit 51 Tagen in einem Glaskäfig, der im Lehrervereinshaus aufgestellt war, und übertraf damit den Weltrekord im Hungern. Anstatt großem Ruhm erwartete ihn die Kripo wegen zahlreicher Betrügereien und Heiratsschwindeleien. Und es gab Konkurrenten: Kurt Wahlmann war Schriftsteller und Naturheiler. Sofern er nicht über die Heilkraft der Sonne schrieb, behandelten seine „Gedichte eines Feldgrauen“ Themen wie „Mann und Kreis“ oder „Das Unergründliche.“
Mit Kräuterteemischungen – für Augenkranke waren Kornblumen im Angebot, der Blutreinigungstee kostete 50 Pfennige – schuf er sich eine Fangemeinde. Die pilgerte am 24. März 1926 zum Germania-Palast in der Frankfurter Straße 313. Umrankt von künstlichen Blumen war in einem Saal des größten Friedrichshainer Kinos ein geräumiger Glaskasten, innen mit Bett und Tisch, aufgestellt. „Wolly“ war bereit, mindestens 30 Tage zu hungern. Seine Gemeinde, junge Leute, darunter viele Frauen, waren die Zeugen. Er ernährte sich währenddessen nur von Mineralwasser, das ihm so viel Kraft gab, zweimal am Tag aus dem Kasten zu kommen, um Reden über rohes Obst und das allgemeine Leben zu halten. Mochte er sich bewegen, tanzte er mit seinen Anhängerinnen Charleston. Er grenzte sich ab gegen die Artisten Fastello & Harry, die zeitgleich Mineralwasser trinkend und Zigaretten rauchend in der Friedrichstraße in einem Glaskasten hungerten. Als ans Licht kam, dass Harry Nelson, der in Leipzig im Glaskasten saß, nachts durch eine Öffnung Hühnerbrühe und Malzbonbons gereicht wurden, änderte sich die freundliche Stimmung, zumal auch Hungerkünstler „Jolly“ als Schwindler aufgeflogen war. Kritiker diskutierten am 26. April 1926 vor „Wollys“ Glaskasten. Er verlangte von seinem Manager die Auszahlung der Gage. Als der ablehnte, schrie Wahlmann: „Hoiho, die Scheiben schlag ich ein und fresse, was ich finde!“, und sprang durch die zerspliternden Scheiben. Blutüberströmt stand er zwischen seinen Anhängern, um dann zur Rettungswache Warschauer Straße zu laufen. Hier wurden seine Wunden versorgt. Dann begab er sich in seine nahe gelegene Wohnung. Verärgert über die Berichterstattung der Zeitungen schrieb „Wolly“ Drohbriefe, kündigte an, alle mit seinem „Spezialsprengstoff“ in die Luft zu jagen. Erst nach seiner Verhaftung gab er klein bei. Bereits am 22. April 1926, kaum beachtet und mit Minus in der Kasse, hatten Fastello & Harry nach 45 Tagen ihre Behausung verlassen.
Keine Lügen
Bedienten Hungerkünstler die Sensationsgier der 1920er-Jahre, so erfüllte August Konka andere Bedürfnisse. Ihn konsultierten keine Frauen, die ihren im Krieg gefallenen Männern nachtrauerten, sondern jene, die sich dem Leben zuwandten. Wer hier eintrat, stand einem Meister der Fernsuggestion, der Horoskope und der Verjüngungskuren gegenüber. Konka wohnte in einer Kellerwohnung der Boxhagener Straße. An deren Wänden hingen astronomische und astrologische Bilder. Suchte eine Frau zum Mann ihres Herzens den Kontakt, der sich nicht auf herkömmlichen Wegen herstellen ließ, dann half Konka. Er bat um ein Foto des Betreffenden. Dieses schickte er an die Indische Loge der Wahrheit, damit die Spezialisten des Liebeszaubers das Unmögliche ermöglichen sollten. Schlug dieser Versuch fehl, dann brachte Konka seine Waffe, das Thestogan, ins Spiel. Ein Aufputschmittel, das in der Apotheke 12 Mark kostete. Mit Kräutern gemischt, gab er es für 500 Mark an die Frauen weiter. Mit viel Geschick sollten die Frauen das Thestogan den Angebeteten verabreichen. Konka hatte diverse Kartentricks auf Lager, deren Ergebnisse seine Klientel sehr ernst nahm. Einfach, weil die „Karten niemals lügen“. Dieses Vertrauen für das Okkulte kam nicht von ungefähr. Bereits in der Kaiserzeit stießen Geisterbeschwörungen und Wahrsager auf ein nach innerer Orientierung suchendes Publikum.