Sicht auf den Ostbahnhof.
Von
„Alle umliegenden Straßenzüge sind abgesperrt, Anwesende haben sämtliche Anordnungen reibungslos und schnell zu befolgen!“, schallte es am 22. Oktober 1945 vom Lautsprecherwagen der Polizei. 120 Schutzpolizisten, 50 Kripobeamte und 40 Militärpolizisten schwärmten rund um den Schlesischen Bahnhof, der ab 1950 Ostbahnhof heißen sollte, aus. Wer dem Aufruf nicht folgte, wurde sofort vom Gewerbeaußendienst registriert und von Mitarbeitern des Arbeitsamtes zu gefährlichen Arbeiten wie z.B. dem Uranbergbau verpflichtet, zu dem sich Betroffene ab 1946 melden durften. Allein im August 1947 wurden 2.450 Personen am Schlesischen Bahnhof überprüft und 8 Restaurants geschlossen. Täglich gingen vier Zivilbeamte auf Streife, im Dezember 1947 beispielsweise wurden zehn Pfund Butter, zwei Pfund Speck, 19 Eier und 450 amerikanische Zigaretten vom Schwarzmarkt eingezogen. Seit Juli 1946 war die Deutsche Verwaltung des Innern (DVdI), ein Vorläufer der Stasi, am Bahngelände für solche Aufgaben zuständig. Vom DVdI ging 1947 die Gründung einer „Eisenbahnschutz- und Eisenbahnkriminalpolizei“ aus. Sie sollte den Diebstahl und die Zerstörung von Reparationsgütern für die Sowjetunion verhindern und für „Ruhe und Ordnung im Bahnbereich“ sorgen.
Doris
Doris D. wohnte 1962 in der Kopernikusstraße, mochte modische Kleidung und liebte den Song „Weil ich jung bin“ von Bärbel Wachholz. Mit dieser Liebe war sie nicht allein. Sie erklärte kurzerhand ihre Wohnung zum „Bärbel Wachholz Klub“. Der fand Anhänger „aus allen Stadtbezirken“, beobachteten Freiwillige Helfer der Volkspolizei. Einer der „FH“, meinte es gut, sprach Doris an, ob „ihre Gruppe“ denn in der FDJ-Wohngruppe „mitarbeiten“ wolle, aber erntete ein Kopfschütteln.
Anhang
Andere „FHs“ fanden heraus, dass Lothar, ein enger Freund der Doris D., in der Pintschstraße Partys feierte. Bis zu 25 Personen kamen in seine Wohnung, gingen in das „Klubheim Bersarinstraße“ oder in den „Zentralen Club der Jugend und Sportler“ in der Karl-Marx Allee, um sich „tätliche Auseinandersetzungen mit den dort verantwortlichen Genossen“ zu liefern. Das Augenmerk der freiwilligen, in „Personenerkennung für zielgerichtete Personenkontrolle“ geschulten Trapo-Helfer am Ostbahnhof galt einem anderen engen Freund von Doris. Dieser war aufgefallen, weil er „in seinem Verhalten unsicher war, nicht ordentlich gekleidet“ und in den „Stoßzeiten des Publikumsverkehrs“ am Ostbahnhof auftauchte. Zwischenzeitlich hielt er sich „in der Mitropa-Gaststätte Ostbahnhof, der Ladenstraße und dem lokalen örtlichen Bereich“, auf. Er war im Besitz einer Fahrkarte und pendelte mit ihr zwischen Ostbahnhof, Friedrichstraße, Alexanderplatz und Königs Wusterhausen. Das machte ihn der „versuchten Republikflucht“ verdächtig.
Alles anders
Im Dienstbereich der Deutschen Reichsbahn Berlin gab es 34 „Sicherheits- und Schadensverhütungskollektive“ und innerhalb derer sieben zentrale Sicherheitsaktive, eines davon im Ostbahnhof. Verdächtige wurden entweder in die Gruppe „ohne Ortskenntnisse“, von diesen hatte immer jemand einen Stadtplan dabei, oder in die Gruppe „mit den Verhältnissen in Berlin bekannt“, eingeteilt. Allerdings plante der Freund von Doris keine Republikflucht, sondern besorgte Bravo-Hefte und West-Schnittmusterbögen für den Kreis um den „Wacholz-Klub“ in der Kopernikusstraße. Damit leistete er der „ideologischen Diversion des Klassengegners Vorschub“, so die Genossen von der Trapo, die zum Jahreswechsel 1952/53 zu einer der Hauptverwaltungen des Ministerium für Staatssicherheit geworden war. 1957 kam die Trapo zur Verwaltung des Ministeriums des Innern. Der Anteil von MfS-Leuten in der Trapo blieb weiter bedeutend.
Konsequenzen
Jetzt waren dem „Bärbel-Wachholz-Klub“ in der Kopernikusstraße die Trapo, der ABV und das MfS auf den Fersen. Alle drei konstatierten: „Während der Partys wird viel Alkohol getrunken!“ Da „der Alkoholmißbrauch in seinen Erscheinungsformen den Prinzipien der sozialistischen Ethik und Moral widerspricht“, so die „Neue Justiz“ in Heft 9, und „infolge ständigen Alkoholmißbrauchs fortgesetzt die Arbeitsdisziplin verletzt und die Regeln des sozialistischen Zusammenlebens mißachtet“ wurden, gingen die Organe gegen die Gruppe vor. Der Freundeskreis wurde zur „Arbeitserziehung“ in verschiedene Berliner Großbetriebe geschickt.
Beifall
Bärbel Wachholz war ein Star in der DDR und Walter Ulbricht war ihr besonders zugetan. Zur gleichen Zeit, als die Staatsorgane dem „Bärbel-Wachholz Klub“ auf den Fersen waren, trat die Künstlerin nur zwei Straßen weiter im Klub der Nationalen Front auf. Die Kreisleitungen von SED und FDJ waren eingeladen. Sie gaben sich nach dem Abend begeistert von der Atmosphäre und dem Auftritt der Künstlerin. Wegen ihres angeblichen Luxuslebens fiel sie allerdings kurze Zeit später in Ungnade und wurde vorübergehend zur Arbeitserziehung ins Narva-Werk geschickt.
Kontakte
Nicht nur das Ministerium der Staatsicherheit schaute „dem Volk aufs Maul“, sondern auch die freiwilligen Helfer der Transportpolizei. So waren die FH Trapo am Ostbahnhof im 1. Quartal des Jahres 1971 sehr aufmerksam. Laut Bericht nahmen 16 Ausländer Verbindung zu „17 weiblichen und einem männlichen DDR-Bürger auf“ und nächtigten sogar in der DDR-Hauptstadt. Damit nicht genug, fanden 15 Türken und 7 Jugoslawen „in einer Kneipe Kontakt zu weiblichen und einem männlichen DDR Bürger“. Alle diese Westberliner Bürger blieben mit den kontaktierten DDR-Bürgern „über längere Zeit verbunden.“ Diese „Gastarbeiter“ kamen zum Handel mit Waren wie Gold, Kleidung oder Westgeld in die Hauptstadt, dabei gingen etliche ungültige Westdevisen in Umlauf. Im dritten Quartal 1971, so meldete ein Report, wurden 178 Ausländer und 166 DDRFrauen, zu denen Kontakt aufgenommen worden war, „zugeführt und überprüft“. Das Ergebnis: „28 operative Informationen“ und über „150 Informationen über Kontaktaufnahmen“. Die Trapo wurde am 30. September 1990 aufgelöst.