Hanno Hochmuth

Kiezvergnügen

Die Kneipen der Fruchtstraße.

von Hanno Hochmuth.

Sprengung in der Fruchtstraße in den 70igern | Foto: Jochen Haupt
Sprengung eines Wohnhauses in der Fruchtstraße 1971 / Foto: Jochen Haupt /

Wer sich im Berlin der Zwanziger Jahre amüsieren wollte, musste hierfür nicht unbedingt in die Friedrichstraße fahren, sondern wurde auch in Friedrichshain fündig. Abseits der einschlägigen Vergnügungsviertel in der Innenstadt gab es ebenfalls ein reichhaltiges Unterhaltungsangebot, das sich direkt vor Ort an die Bewohner der Arbeiterviertel richtete. Dieses Kiezvergnügen war ein wesentlicher Bestandteil der Metropolenkultur während der Weimarer Republik. Es prägte die Freizeitgestaltung der Masse der Berliner Bevölkerung. Zum Kiezvergnügen gehörten Restaurants und Cafés, Tanzlokale und Biergärten, Kinos und Theater, Varietés und Konzerthäuser, Zirkusse und Rummelplätze, Straßenumzüge und Hoffeste sowie Vereins- und Familienfeiern. Der zentrale Ort des Kiezvergnügens war jedoch die Kneipe.

Erforschung des Milieus

Kneipen gab es im Berlin der Zwanziger Jahre an jeder Ecke. Allerdings ist die Kneipenkultur der meisten Berliner Stadtviertel nur bruchstückhaft überliefert. Eine Ausnahme bildet das Gastgewerbe des alten Stralauer Viertels im westlichen Friedrichshain, das außergewöhnlich gut dokumentiert ist. Das liegt vor allem an den zeitgenössischen Untersuchungen der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG), die bereits 1911 durch den evangelischen Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze (1885–1969) gegründet wurde, um im proletarischen Berliner Osten christliche Maßstäbe des Zusammenlebens zu verbreiten und die Arbeiter zu missionieren. Hierfür bildete die SAG mehrere Kommissionen, die zunächst einmal die wichtigsten Lebensbereiche der Friedrichshainer Bevölkerung erkundeten. Die so genannte „Vergnügungskommission“ der SAG untersuchte das Freizeitverhalten im Stralauer Viertel. Auf diese Weise entstanden einzigartige Studien zu den Kneipen rund um den Ostbahnhof.
Im Winter 1924/25 beauftragte Friedrich Siegmund-Schultze mehrere Theologiestudenten der Berliner Universität, sämtliche Kneipen des Stralauer Viertels aufzusuchen und zu dokumentieren. Damit sie nicht so sehr auffielen, verkleideten sich die bürgerlichen Studenten als Arbeiter. Nach ihrer Kneipen-Tour werteten sie ihre Beobachtungen statistisch aus und fertigten von den Straßen des Stralauer Viertels handschriftliche Kneipen-Karten an, die im Evangelischen Zentralarchiv Berlin überliefert sind. Da die SAG ihren Sitz in der Fruchtstraße 62/63 hatte, ist die heutige Straße der Pariser Kommune besonders gut dokumentiert.

Das meiste Bier kam aus Friedrichshain

Auf der knapp einen Kilometer langen Fruchtstraße gab es zwischen der Großen Frankfurter Straße (der heutigen Karl-Marx-Allee) und der Mühlenstraße nicht weniger als 32 Lokale, die in der SAG-Kneipen-Studie erfasst wurden. Am Abend ihrer sechsstündigen Expedition durch die Fruchtstraße zählten die Studenten insgesamt 294 Gäste, deren soziale Zusammensetzung genau dem kleinbürgerlich-proletarischen Sozialprofil der Fruchtstraße in den Zwanziger Jahren entsprach.
Die meisten Kneipen trugen den Namen der Biermarke, die jeweils exklusiv ausgeschenkt wurde. Darin zeigte sich auch die Abhängigkeit der Wirte von den Berliner Großbrauereien, die in der Regel das gesamte Mobiliar sowie die kostspielige Zapfanlage stellten. Den größten Zuspruch genossen die untergärigen Biersorten nach Pilsener Brauart, denn im Gegensatz zum traditionellen obergärigen Weißbier ließ sich das Pils leichter zapfen und vor allem schneller trinken. In der Fruchtstraße dominierten die Biermarken der Großbrauereien, die ihre Brauanlagen und Kellergewölbe ganz in der Nähe in den lehmigen Hängen des aufsteigenden Barnims errichtet hatten. Am meisten verbreitet waren das Patzenhofer aus der Landsberger Allee, das Löwenbräu-Böhmische aus der Friedenstraße sowie das Engelhardt-Bier von der nah gelegenen Halbinsel Stralau.

Hanno Hochmuth
Hanno Hochmuth ist Autor des Buches „Kiezgeschichte. Friedrichshain und Kreuzberg im geteilten Berlin“, das 2017 im Wallstein Verlag erschienen ist. Am 20. Februar um 18.30 Uhr liest der Autor im Café Sibylle, Karl-Marx-Allee 72 aus seinem Buch.

Die Funktionen der Kneipen

Angesichts der besonders beengten Wohnverhältnisse im Berliner Osten dienten die Kneipen als „erweitertes Wohnzimmer“. Dabei standen die Kneipen vor allem den männlichen Bewohnern als Refugium zur Verfügung, wie die Untersuchungen der SAG zeigen. So bildeten erwachsene Männer den weitaus größten Anteil der Besucher, die die Studenten bei ihrer abendlichen Erhebung in den Kneipen der Fruchtstraße antrafen. Erwachsene Frauen machten dagegen nur 18 Prozent aus. Sie mussten neben ihrer Arbeit auch noch den Haushalt und die Kinder versorgen, während die Männer die Kneipen besuchten, um der häuslichen Enge in den kleinen Stube-und-Küche-Wohnungen zu entfliehen.
Die Kneipen der Fruchtstraße dienten zudem als Anlaufstation für die zahlreichen Migranten, die sich im Stralauer Viertel niederließen oder auf der Durchreise nach Amerika waren. In den Kneipen warteten auf die Reisenden häufig Nepper, Kofferschlepper und Bauernfänger. Zahllose Kleinkriminelle bevölkerten die Lokale des Stralauer Viertels, die zugleich als Zentrum der Prostitution als auch der berüchtigten Ringvereine galten. In der politisierten Atmosphäre der Weimarer Republik waren die Kneipen nicht zuletzt wichtige politische Versammlungsorte. Das galt vor allem für die Arbeiterbewegung, die sich seit der Zeit des Sozialistengesetzes in Gasthäusern organisierte, aber auch für das rechte politischen Spektrum.
Die Kneipen des Stralauer Viertels waren also multifunktionale Etablissements. Dabei stand eine Funktion stets im Mittelpunkt: Unabhängig von ihrer sozialen und politischen Prägung waren sie vor allem Orte des Vergnügens.

Mehr als Kneipen

Wie aus den Kneipenstudien der SAG hervorgeht, dienten sie dem Rausch, der Lustbefriedigung und der Realitätsflucht. Die große Kneipendichte trug mit dazu bei, dass an diesem Vergnügen fast jeder teilhaben konnte. Die Kneipen boten den schnellsten und einfachsten Weg, sich ein wenig zu amüsieren. Damit bildeten sie die Basis des Kiezvergnügens im alten Berliner Osten.
Heute kann man sich das kaum mehr vorstellen. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und den anschließenden Flächensanierungen findet sich in der Straße der Pariser Kommune keine einzige Kneipe mehr. Doch vor knapp hundert Jahren gab es in der alten Fruchtstraße noch mehr Kneipen als heute in der Simon-Dach-Straße.

Was sagst Du dazu?

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert