Popgymnastik und mehr.
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„Sport frei!“ begrüßte die Gymnastiklehrerin Frau Kohfeld ihre Teilnehmerinnen im Klub der Jugend und Sportler in der Karl-Marx-Allee. Sie freute sich über „mehrere Muttis, die mit ihren Kindern zum Turnen kommen, und diesen etwas zum Üben vormachen können“. Frau Kohfeld bezog ihre Anregungen über das Fernsehen. Am 23. Oktober 1961 erlebte die Sendung „Medizin nach Noten“ im Ersten Programm des Deutschen Fernsehfunks ihre Premiere. Initiiert von Rundfunkhörern, denen der Sichtkontakt zum Trainer der Rundfunkgymnastik fehlte, entwickelten die DFF-Sportredakteure Taege und Ortner einen neuen Programmplatz. Bedingung war, dass der Platzbedarf für alle Übungen einschließlich aufgestellter Möbel eine Neubauzimmergröße von 18 Quadratmetern nicht überschreiten durfte.
Programmatisches
TV-Geräte schmückten 1961 die Wohnzimmer und der DFF auf Kanal 5 stand in harter Konkurrenz zur ARD auf Kanal 7. Immerhin, seit Oktober 1960 hatte der DFF mit „Sport und Musik“ und dann mit „Medizin nach Noten“ die Nase vorn. Schnell forderten die Zuschauer für das Abendprogramm und für die versammelte Familie ähnliche Sendungen. Die Berliner SED-Leitung kommentierte diesen Wunsch: „Sporttreiben ist nicht das Privileg weniger, sondern das Recht aller“ und mahnte: „Nur leider nutzen nicht alle ihr Recht. So sind wir aktiven Sportfreunde aufgerufen, die Passiven für Lauf, Ballspiel oder Turnen und Kegeln zu gewinnen“. Mit dem Ziel, den Titel „Sozialistisches Kollektiv“ zu erhalten, der mit guten Löhnen unterfüttert war, übernahm daraufhin eine Brigade bei Narva Übungen aus dem Repertoire der „Medizin nach Noten“ für die Pausengymnastik. Von der Partei kam das Lob: „Auch jene, die uns gern ignorieren, erkennen die DDR als ein Sportland an. Und das beziehen sie gleichwohl auf den olympischen wie auf den volkstümlichen Sport.“ Um sich darüber hinaus in einer Traditionslinie mit dem Arbeitersport dazustellen, die sozialdemokratischen Wurzeln der Arbeitersportvereine blieben unterschlagen, bezog sich die SED auf Sportler, die im NS-Widerstand standen. Etwa auf Kurt Ritter vom Sportklub Rekord, der als ein Mitglied der Gruppe Robert Uhrig am 28. August 1944 hingerichtet wurde. Seinen Namen erhielt 1962 ein Sportplatz an der Gürtelstraße.
Eile mit Meile
Fast zeitgleich mit den westlichen „Trimm-dich“-Kampagnen propagierten DFF-Sportjournalisten die Aktion „Eile mit Meile“. Bis zum 7. Oktober 1974, dem 25. Jahrestag der DDR, sollten Teilnehmer Strecken von 1.974 Metern laufen, 400 Meter schwimmen, 8.000 Meter radwandern, 4.000 Meter wandern oder 4.000 Meter wasserwandern. Am 21. April 1974 gingen im Volksschwimmbad Friedrichshain die ersten Teilnehmer auf die 400-Meter-Schwimmstrecke. Versammelten sich 1970 im Volkspark Friedrichshain 500 Läufer zur „Berliner Laufbewegung“, gingen am Neujahrsmorgen 1975 3.800 Teilnehmer zur „Freundschaftsmeile“ an den Start. Diese führte rund um den Friedrichshainer Volkspark und wurde im TV übertragen. Mit im Pulk waren die Eiskunstläuferin Manuela Groß und der Ruderweltmeister Hans-Ulrich Schmied. Lagen den Jogger-Events in Westberlin esoterische Leitbilder zugrunde, standen alle Langlaufwettbewerbe in der DDR-Hauptstadt unter politisch-propagandistischen Vorzeichen. Das Denkmal der Spanienkämpfer gab 1978 die Kulisse für den „Neujahrs-Meilen-Lauf“. Die Teilnehmer trugen gelbe Schleifen, auf denen zu lesen war: „Eile mit Meile – Auftakt 1978 – Berlin Hauptstadt der DDR“. Und es gab Erinnerungsschleifen für die Olympiameile, die am 1. Januar 1976 vor dem Spanienkämpferdenkmal ihren Anfang nahm. Viele Prominente aus Sport und Kultur liefen mit und erhielten mit Blick auf die Olympiade in Moskau im Jahr 1980 Trikots in den Farben Grün, Weiß, Blau. Der „Berliner Friedenslauf“ mit Start vor dem Kino International mit bis zu 100.000 Teilnehmern stand unter der Schirmherrschaft des IOC-Präsidenten Antonio Samaranch. Aber viel wichtiger war den meisten Teilnehmern die Freude am Sport.
Popgymnastik
Eine um sich greifende Bewegungsarmut und das Übergewicht vieler Bürger mit ihren Folgen standen auf der anderen Seite der Medaille. Rhythmus und Bewegung in neue Formen zu bringen, war die Absicht der Gymnastiktrainer Elke Kurth, Karin Wildgrube und Karl-Heinz Wendorff. Ab 1985 wurde die „Medizin nach Noten“ aus dem schicken Friedrichshainer Sport- und Erholungszentrum (SEZ) übertragen. Einst verpönte Hüpfübungen waren kein Tabu mehr, die Begrenzung auf 18 Quadratmeter kein Thema und klassisches Rumpfbeugen war passé. Für die Popgymnastik wurde ein tänzerischer, alle Muskelgruppen ansprechender dynamischer Verbund fließender Bewegungen angeleitet. Alles nicht ganz leicht, aber auch nicht schwierig zur Musik von Kim Wilde, Petra Zieger oder Perl. Ergänzend zeigte das Buch „Mit Gymnastik durchs Jahr“ Bilder und Beschreibungen dieser Übungen, die der „Selbstbeherrschung und der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung“ dienen sollten. Obwohl die englischen Bezeichnungen einzelner Übungen wie „Double Touch“ oder gar „Aerobic“ für die neue Sportart als inopportun geächtet waren, kam die trendigste Sportart der USA dieser Zeit in der DDR gut an und fand in Berlin Zuspruch bei über 9.000 Teilnehmern mit 200 Übungsleitern. Allerdings mit vielen Problemen: Im Gegensatz zum SEZ verfügten die meisten Turnhallen kaum über entsprechende Musikanlagen. Selbst ein Podest, auf dem die anleitende Person für alle sichtbar agieren konnte, musste meistens erst gezimmert werden. Zwar reichte die übliche Sportkleidung, dennoch gab es die bunten eng anliegenden Gymnastikhosen und Anzüge ebenso wenig wie die aus dem Westfernsehen bekannten bunten „Warmlegger“ im Laden zu kaufen. Trotz allem gehörten bis zur Wendezeit die Vorführungen der Popgymnastikgruppen zum festen Vorprogramm von Sport- und vielen anderen Veranstaltungen. Indem alle Titelanimationen für die „Medizin nach Noten“ computeranimiert wurden, vollzog der DFF ebenfalls eine kleine Wende. Doch mit der Abwicklung des DFF war das Ende der beliebten Sendereihe besiegelt.