Eine Lebensstation am Frankfurter Tor.
Von Andreas Seidel.
Der Landschaftsmaler Paul Riess, geboren am 15. März 1857 in Fichtwerder/ Warthe, gestorben in Dessau am 30. Mai 1933, verließ 17jährig sein Heimatdorf in Richtung Berlin. Hier fand er Quartier in der Frankfurter Allee 24, einer Immobilie der Berolina Häuserbau Actiengesellschaft. Als Immobilien spekulierende Akteurin im sogenannten Berliner Gründungsschwindel hatte sie einen Teil des eingesammelten Kapitals von einer Million Taler in Bauprojekte an der Frankfurter Allee investiert. Ob hier Wuchermieten wie andernorts kassiert wurden, ist nicht bekannt, wohl aber, dass Paul Riess nach ein paar Monaten in die Frankfurter Allee 40, später umnummeriert in 107, wechselte, einem 1873/74 von den Körtingschen Erben errichteten Neubau, der dann 1874/75 vom Schmied Marburg erworben wurde. Die männlichen Mieter waren tätig als Schneider, Schutzmann, Raschmacher, eine ausgestorbene Form des Wollwebens, Schaffner, Stellmacher oder Tapezierer. Möglich, dass der Wohnungswechsel durch kollegiale Beziehungen des Nagelschmieds Posch eingefädelt worden war, dessen Enkelkind Paul Riess ein Jahr zuvor als Taufpate beigestanden hatte.
Streifzüge durch die Mark Brandenburg lieferten Paul Riess Motive für heute zumeist verschollene Ölgemälde. Von 1880 bis April 1884 ließ er in Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions- Haus rund 50 solcher Bilder versteigern, die in den im redaktionellen Teil der Vossschen Zeitung erscheinenden Versteigerungsnotizen teils genannt wurden. Der Auktionserlös finanzierte ihm Lebensunterhalt, Studienreisen, Künstlerbedarf sowie die anfallenden Gebühren für den im April 1882 aufgenommen Tagesunterricht an der Königlichen Kunstschule. Seine bevorzugten Sujets waren Dunkelthemen, vor allem Mondscheinlandschaften und Sonnenuntergangsmotive. Paul Riess traf den Kunstgeschmack des zahlenden Publikums und befriedigte eine wachsende Nachfrage nach Kunst, die mit der Anhäufung großer Vermögen in den Gründerjahren und einem in bürgerlichen Kreisen zunehmenden Wohlstand einherging.
Vorstädtisches Umfeld
Die noch gärtnerisch geprägte Gegend im Stralauer Quartier war gemäß dem Hobrechtplan von 1862 städtebauliche Erweiterungsfläche und lag verkehrstechnisch günstig, nur einen kurzen Fußweg entfernt vom 1866/67 errichteten Empfangsgebäude der Ostbahn, dem Berliner Ostbahnhof. Für die rund 150 Bahnkilometer ins heimatliche Fichtwerder standen Paul Riess mehrere Zugverbindungen der hochmodernen Königlich Preußischen Ostbahn zur Verfügung. Sie war auf geografi sch kürzestem Wege zweigleisig trassiert und führte von Berlin über Landsberg bis zum deutschrussischen Grenzort Eydtkuhnen in Ostpreußen. Aus seiner im 4. Obergeschoss gelegenen Wohnung in der Frankfurter Allee / Ecke Gubener Straße konnte der Blick noch über Felder und Wiesen schweifen. Im Frühjahr muss der Duft der sich östlich erstreckenden Georgeschen Hyazinthenfelder in der Luft gelegen haben. Südwestlich rückte bereits die Stadt mit Neubauten heran und droschen die Steinsetzer tagaus tagein die Katzenköpfe in das parzellierte Straßenraster. Dennoch verblieb die Nummer 107 für längere Zeit in Alleinlage. Stadteinwärts neben dem Grundstück lag eine Grünfläche, auf der die Weber des Viertels ihre Erzeugnisse zum Trocknen ausbreiteten, die Weberwiese. Die Frankfurter Allee hatte nur hin und wieder einen befestigten Bürgersteig und über die breiten wasserund schlammgefüllten Gräben führte ein aus Brettern roh zusammengefügter, geländerloser Steg. Die vierfache Reihe alter Linden war zum Teil abgestorben. Stadteinwärts verkehrte in zehnminütigen Abständen der Pferde-Omnibus der Linie 30.