Merkwürdige Geschichtspolitiken um die Mühsamstraße
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Früher hieß die Mühsamstraße Zorndorfer Straße. Zorndorf liegt heute in Polen und heißt Sarbinowo. Nördlich dieses Fleckens kam es im August 1758 im Zuge des Siebenjährigen Kriegs zu einer verlustreichen Schlacht zwischen preußischen und russischen Truppen. In wenigen Tagen kamen mehrere zehntausend Menschen ums Leben. Obwohl die Schlacht nicht eindeutig entschieden wurde, reklamierte Preußen den Sieg für sich. Bald nährte die Schlacht von Zorndorf den Mythos des unbesiegbaren Preußenkönigs Friedrich II.
Hauptsache stolz
Als man bei der Errichtung der neuen Straßenzüge 1893 in der Berliner Spätgründerzeit viele neue Namen brauchte, lag es nahe, für die Straße mit der wenig schönen Bezeichnung 44a, Abt. XIII/2 einen zu wählen, der Preußens Glorie herausstellte. Wenn die ärmeren Einwohner aufgrund ihrer sozialen Ausgrenzung sonst schon nicht viel zu lachen hatten, sollten sie wenigstens ein Gefühl des Stolzes verspüren können.
Nicht mehr tragbar
Genau dies war fast sechzig Jahre später, nach der Vernichtung der faschistischen Wehrmacht, die den Mythos des preußischen Soldatentums verinnerlicht hatte, nicht mehr opportun. Ein Ort, der daran erinnerte, dass die nunmehr verfemten Preußen einen Sieg errungen hatten, ausgerechnet gegen die militärischen Vorläufer der ruhmreichen Sowjetarmee, war in der Hauptstadt des neuen Deutschland doppelt unmöglich geworden. Folgerichtig war die Entscheidung, die durch die Berliner Zeitung am 29. August 1951 mitgeteilt wurde, dass neben anderen Friedrichshainer Straßen auch die Zorndorfer Straße umbenannt wurde, die nun Mühsamstraße heißen sollte.
Ein unangepasster Künstler
Der 1878 in Kiel geborene und dort aufgewachsene Erich Mühsam zeigte früh schriftstellerische Ambitionen und holte sich wegen „sozialdemokratischer Umtriebe“ Ärger in der Schule ein. Aus tiefer Abneigung gegen jede Form von Despotie orientierte er sich an anarchistische Wertvorstellungen. Über Berlin gelangte er 1910 nach München, wo er sich mit politischen Freunden, Publizisten sowie Angehörigen der Bohème, aber auch mit Clochards umgab. 1918/19 nahm er an der Münchner Räterepublik teil, wofür er nach deren Niederschlagung 5 Jahre Haft verbüßte. Nach seiner Haftentlassung 1924 wirkte er politisch und schriftstellerisch fort, ohne sich vereinnahmen zu lassen. Anarchistische Gruppen agierten auch in Berlin, zum Beispiel in der Warschauer Straße in der Nähe des gleichnamigen Bahnhofs. Hier soll sich auch Erich Mühsam oft aufgehalten haben. Den beißenden Spott in seinen Schriften, der bis heute seine Frische bewahrt hat, verziehen ihm seine Gegner nicht. Seit seiner Verhaftung 1933 erlitt Mühsam im KZ Oranienburg ein Martyrium, bis er am 10. Juli 1934 dort umgebracht wurde.
Mühsams Frau Kreszentia (Zenzl), die nach dem Tod ihres Mannes in die Sowjetunion floh, wurde 1936 als angeblich trotzkistische Spionin verhaftet.
Verlogene Politik
1948 wies die Tageszeitung Neues Deutschland die Behauptung eines Sozialdemokraten, sie sei Gefangene Stalins, als üble Verleumdung der Sowjetunion zurück und präsentierte einen gefälschten Brief Zenzl Mühsams. DDR-Präsident Wilhelm Pieck, der Mühsam persönlich kannte und nach dessen Haftentlassung 1925 eine Laudatio auf ihn vorgetragen hatte, war die Situation der Witwe Mühsams sehr wohl bekannt. Den Mut, sich als Präsident der DDR bei Stalin für ihre Freilassung einzusetzen, fand er nicht. Als die Mühsamstraße ihren Namen erhielt, hatte Zenzl Mühsam noch vier Jahre Haft vor sich. Erst 1955 kam sie nach Berlin zurück, wo sie von der Staatssicherheit bis zu ihrem Tod 1962 misstrauisch beobachtet wurde.
Wohnraumverfall
In der DDR verfielen die Gebäude der Mühsamstraße zusehends. Putz bröckelte, Anstrich blätterte, das Mauerwerk war vielerorts feucht. Einzelne Sanierungen halfen nicht über den Anschein einer typischen heruntergekommenen Berliner Altbaugegend hinweg, ebenso wenig, dass die Wohnungsverwaltung seit Ende der 1970er Jahre großzügig Ausbauwohnungen förderte, die von den Mietern selbst saniert wurden. Schlecht vermietbarer Wohnraum und zunehmender Leerstand führten dazu, dass die Mühsamstraße zu einem beliebten Zuzugsgebiete von Wohnungsbesetzern wurde. Die kleine Kneipe Zuppe in der Mühsamstraße gegenüber der Eckertstraße, die von ihnen gern frequentiert wurde, schloss zu deren Bedauern bereits in der ersten Hälfte der 1980er Jahre.
Vergessene Ehrungen
Wurde Erich Mühsam in der DDR offiziell als Opfer des NS-Regimes geehrt, erfuhr er in den 1980er Jahren vor allem unter jugendlichen Hippies und Punks neue Beachtung. Theatergruppen und Punkbands spielten seine Texte. Jährlich begab sich ein kleiner Trupp junger Prenzlauer Berger und Friedrichshainer zum Todestag Mühsams nach Oranienburg, wo vor einem Gedenkstein Halt gemacht wurde, um Gedichte zu rezitieren und eine Flasche Wein kreisen zu lassen. Pikant war, dass der Gedenkstein genau vor einem Polizeirevier stand, was jedes Mal zu heiteren Kommentaren Anlass gab. Die Polizei revanchierte sich jedes Mal, indem sie binnen kürzester Zeit nach Abschluss der Veranstaltung, wenn alle wieder auf dem Heimweg waren, Blümchen, Fähnchen und dergleichen Fremdkörper vom Gedenkstein putze. In den selbst herausgegebenen Presseerzeugnissen der Widerstandsgruppen finden sich Berichte von den Ehrungen. Doch haben solche unkonventionellen Aktionen zu Ehren des Bürgerschrecks Erich Mühsam in den offiziösen Darstellungen des als Bürger-Revolution interpretierten SED-Sturzes keinen Platz.