Vor 99 Jahren entstand der Bezirk Friedrichshain.
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Es war eine klare Entscheidung progressiv gegen konservativ. Vor 99 Jahren, am 27. April 1920, verabschiedete die verfassungsgebende Preußische Landesversammlung nach jahrelangem intensiven Bemühen gegen zähe Widerstande ein Gesetz, das einen höchst komplizierten Vertrag besiegelte. Acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke schlossen sich zu einer einheitlichen Gemeinde mit dem Namen Groß-Berlin zusammen. Für die damaligen Verhältnisse war der Name keineswegs übertrieben. Als am 1. Oktober 1920 der Vertrag in Kraft trat, war über Nacht aus der 1,9 Millionen- Stadt Berlin eine Gemeinde mit insgesamt 3.806.533 Einwohnern entstanden, dessen Fläche sich von 66 auf 878 Quadratkilometer vergrößerte. Nach Los Angeles war es damit die zweitgrößte Stadt und von der Einwohnerzahl her nach New York und London die drittgrößte Stadt der Welt.
Ein neuer Bezirk
Als ein neuer Bezirk entstand Friedrichshain aus Teilen der Berliner Königsvorstadt, der Stralauer Vorstadt, aus der Gemeinde Friedrichsberg und des Landkreises Barnim. Er war mit seinen 326.067 Einwohnern von Anfang an Großstadt. Benannt nach dem 1846 eröffneten Park an der östlichen Peripherie der Stadt Berlin, erschien er seinen Einwohnern oft alles andere als ein schöner Hain. Gerade im Westteil des heutigen Friedrichshains, in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs, im Barnimviertel und dazwischen gab es viel soziales Elend. Von den 144 Wohnungen, die in den Jahren zwischen 1903 und 1920 von der Berliner Wohnungsenquête als menschenverachtend dokumentiert wurde, lagen ganze 15 in Friedrichshain. Ein Teil des heutigen Bezirks, nämlich weite Teile des Südkiezes, lag bis 1938 noch im Bezirk Lichtenberg. Das hat historische Ursachen. Die uralte mittelalterliche Grenze zwischen der Berliner und der Lichtenberger Feldmark verlief entlang der Thaerstraße. Das 1543 erstmalig genannte Vorwerk Boxhagen wurde um 1770 um acht Gehöfte mit böhmischen Glaubensflüchtlingen erweitert. Ebenfalls um 1770 wurde Friedrichsberg an der Frankfurter Chaussee, Ecke heutige Gürtelstraße gegründet. Es lag ebenso wie Boxhagen und das Dorf Lichtenberg im Kreis Niederbarnim. Brisant wurde die Situation, als in den 1870er Jahren die neuen Mietskasernen über die Stadtgrenze Berlins hinauswuchsen, und sich die kleinen Landgemeinden plötzlich mit Einwohnerzahlen von zehn-, zwanzigtausend und mehr konfrontiert sahen. Dringende Anfragen der Landkommunen an die Berliner Stadtverwaltung, ihre Landkreise in die Stadt aufzunehmen – zumal sie zusehends mit Verkehrsmitteln von Berlin aus erschlossen wurden –, wiesen die Berliner Stadtoberen vor allem mit dem Argument zurück, dass Standorte der Mietskasernen kein hohes Steueraufkommen erbringen und möglicherweise sogar alimentiert werden müssten. Ein weiterer, allerdings nicht offen genannter Grund bestand in der Furcht der Berliner Oberen, mit den Arbeitergegenden auch Unruhepotenziale in die eigene Gemeinde zu holen. Von Solidarität jedenfalls keine Spur. Wenn die Arbeiter außerhalb Berlins lebten, war es gut. Dass viele von ihnen in Berliner Betrieben arbeiteten, die das Steueraufkommen der Stadt vergrößerten, war um so besser.